bevor das Licht sich verneigt  tief stehend
und alle anderen längst gegangen sind sie
da wie ein Ort am Wasser  sacht und seicht
zieht es hinaus mit bloßen Füßen über Stein
und Muschelscherben  tastend balancieren

gute alte Geister mit beruhigenden Gesten
die sich abstoßen schwerelos zu werden
Elementarteilchen der spiegelnden Fläche
zwischen Ufer und Weite spürst du wie sie
sich aufrichten  aufspannen um das Gleich

gewicht dieses Moments zu halten  überall
hin tragen sie dich  rhythmisch und zügig
vorwärts auf der Grenze von Süß zu Salz
plötzlich der Sog nach draußen als leichter
Schwindel so als riefe man dich ins Offene

statt hoch zur Steilküste mit ihren rieselnden
Gebirgsbächen  winzige Lawinen die da
abgehen  verborgene Nist und Rastplätze
Start und landerampen  ein Staub zu Staub
dieses stille Ticken einer großen Sanduhr

angezählt von Hitze und Gewitter belagerte
Insel  nachgiebig sich selbst verschenkend
Schwemmmaterial  kristalline Landschaften
auf Strömungswegen bis sie anderswo Orte
aufschichten  Bucht werden  weit abgelegen

in: Versnetze_zwölf, Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, Hg. Axel Kutsch, Ralf Liebe Verlag 2019.

später gibt es immer Anzeichen fürs Ende

des Abends das Rütteln auflandiger Windböen
an Fensterläden alle Glühbirnen durch und keine
Feuerhand dabei  Gewehr bei Fuß steht früh
die Dunkelheit parat und Langfühler

schrecken geben uns den Ton aus Ader und Flügel
unerbittlich manischer Sound  Frequenz der Eroberer
und Verteidiger  das alte Lied von Angriff und Lust
ist angestimmt  hör doch voller Ungeduld

als wolle jeder endlich beim Laut genommen werden
zwei Trommelfelle und Antennen aus 500 Einzelgliedern
braucht es zum Überleben in diesem Resonanzraum
bist du der Ton und ich der Körper zeichne

Ausschläge auf  verstärke den Schall  Welten sind wir
von einander entfernt  Antipode des drohenden Unwetters
aufgeladene Teilchen überm Meer sein schiefes Grinsen
und nur ein Ausfallschritt ins klebrige Netz

am Morgen bei klarer Sicht unsere Abdrücke
und Spuren der Nacht auf den Tisch gespuckte Kerne
Aschereste  die getrockneten Ränder der Gläser
Umlaufbahnen auf Kollisionskurs

Langfühlerschrecken bilden eine der Unterordnungen der Heuschrecke. Mit ihren Flügeln und einer Schrillader darauf erzeugen sie Gesänge, um Weibchen anzulocken oder Reviergrenzen festzulegen.

in: Versnetze_zwölf, Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, Hg. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe 2019.

 

und welche Nähe brauchst du
welchen Abstand zu Lichtquellen
ohne abzustürzen? im Fenster spielen
die Schatten Schnabel ohne Körper und
Federn ohne Flug flackernde Gesten
aus Höhen und Tiefen sammeln sie
was verflogen erinnern was wir
veräußern auf der Suche
nach dem Gleich

in: Jahrbuch der Lyrik 2019, Hg. Christoph Buchwald und Mirko Bonné, Schöffling & CO 2019.

tragischerweise
sind die Leerstellen so ehrlich einfach
unverstellt ganz ohne Rüsch und Pomp
meist ungehört und oftmals nicht verstanden
existieren sie
und hinterlassen doch nicht mehr als nichts
das etwas anders besser machen würde
vielleicht wenn jemand sie bezifferte
nicht nur im Stillen gefristet
sondern laut geworden
den hohen Ton
angeschlagen
in Not
geraten gerettet geborgen
eben nicht
untergegangen
auf den Grund gesunken
ohne Abgesang verklungen
nie mehr gesehen
einfach so

in: POESIE AGENDA, Hg. Jolanda Fäh und Susanne Mathies, orte Verlag 2019.

ERDMOND

irgendwann werden wir das selbst
erledigen  wenn nichts mehr geht
hier unten nichts mehr hält  dann gilt
die Wette: einen heben und Abflug

wir schießen uns ab für Optionen
auf die Zukunft und Veränderungen
erinnern uns wieder an den Mantel
aus seltenen Erden und die Macht

über Wasser und Gezeiten spüren
wir unseren Satelliten wie einen Blick
im Rücken zwischen Sternchen und
Neigung in gebundener Rotation

manchmal tun wir so als ob  Punkt
Punkt  Komma  Strich  fertig ist das
alles längst erreicht  kartographiert
und mit zig Metaphern ausgestrahlt

selbst wenn er links liegen gelassen
wird daraus noch lange keine Ignoranz
liegt uns nicht  lunatic ist unser Geist
das Flüchtige zieht uns an und alles

was zwei Seiten hat  dark and bright
im Rhythmus der Zeit feiern wir Feste
wie sie fallen so kehren sie wieder
aufgehen  erfüllen  vergehen und

von vorn: fremd gesteuert am Rande
der Szene den Abgang planen und los!
was war ist verloren aber wir sind jetzt
selbst die Hunde im Universum

Trabanten der Erinnerung an andere
fantastische Möglichkeiten wollen wir
glauben an Sonne und Perspektiven
auf der Kehrseite der Medaille

treiben wie die Siedler einer Wüste
in unseren aufblasbaren Komplexen
über poröse Seen  Stäublinge sind wir
ein falscher Schritt und schon verpufft

in: Versnetze_elf, Deutsche Lyrik der Gegenwart, Hg. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe 2018.

du bist an Deck und starrst aufs Wasser
Richtung Ufer  da vorn auf dunklen Wolken
formationen im Nebel schwappend bin ich
mit ein wenig Einbildungskraft zu erkennen
schwach  aber immerhin  der winzige Punkt
einer Grenzlinie die niemand hier leichtsinnig
ansteuert  Seezeichen der Untiefe  waghalsig
umher treibend  aus seiner ursprünglichen Ver
ankerung gerissen und nur noch von Schling
pflanzen am Ort gehalten was versprochen
ungebrochen werfe ich meine Schallwellen
über rastlose Oberflächen  von whistle kann
hier keine Rede sein  howling with the wind!
bei jeder Tauchbewegung halte ich für dich
die Luft an  übertöne die Gischt

Die erste Heultonne (engl. whistle buoy, dt. ugs. Heulboje) wurde 1876
von ihrem Erfinder, dem US-Amerikaner Cortenay, ausgelegt.

in: Versnetz_elf, Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, Hg. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe, 2018.

 
1
BEI UNBESTIMMTEN LAUNEN DES LICHTS  scheint er noch heute
unseren Garten mit leisen Forscherschritten abzuschreiten
 
morgens ein vager Schatten am Stock  abends unsichtbares
Augenpaar im Unterholz den Lauf der Sonne vermessend
 
nach Kompass und Jahreszeit richtet er sein Glashaus aus
mit Einsicht und das Steinewerfen darin: streng verboten! 
 
2
hell wollte er es haben  erzählt der Vermieter  und ebenerdig
durch alle Fenster die Vögel studieren  der unruhigen Nacht
 
genügte ein Feldbeld im verlängerten Flur  stolperndes Herz
des Hauses einzig dunkle Kammer umzingelt von Schrank
 
wänden die Sehnsucht der Glühwürmchen  tickende Rohre
im toten Winkel zwischen zwei Türen hin und her gerissener
 
3
Ort ohne Ausblick  so wollte er schlafen: mit offenen Augen
nichts sehen  Ruhe geben  Szenen stoppen können  CUT
 
nächste Einstellung: im Vorführraum des Lichtspieltheaters
er und sein Traum vom Filmemachen mit Blinden  am Ende
 
flüstert der Nachbar  sah man ihn bei hellichtem Tag im Schlaf
über den Asphalt flimmern  auf der Suche nach dem Weg zurück
 
in: Jahrbuch der Lyrik 2018, Hg. Christoph Buchwald und Nico Bleutge, Schöffling & Co, 2018.
 
 
 
I.
alle anderen sind längst
mit Blumen in ihren Gewehrläufen
für den Skalp des Kaisers  nach Berlin!
 
gezogen – die mit Dekor nichts am Hut
haben wollen oder dürfen nicht kämpfen
sie bleiben
 
II.
die letzten Kubisten von Paris
brechen auf was galt vergeht:
 
die eigene Silhouette  klare Konturen
gewohnte Perspektiven verschwimmen
in überlagernden Schichten petit cubes
 
III.
das haben wir geschaffen. wovon sonst
leben? wenn keiner mehr Bilder braucht
jeder seinen Helm des Hades
 
als Verhüllungszauber gegen das scharfe
Auge im Hirn des Betrachters  Zielsubjekte
unter die Fittiche nehmen  alle zusammen
 
IV.
suchen  sammeln  raffen wir passendes
Material fürs Wimmelbild der Moderne
c a m o u f l i e r e n goes fashion
 
Leinwände gestalten sich zu Installationen
tragen tarngekappte Muster  wüste Winter
farben im gefleckten Lagenlook zum Ast
 
V.
verrindet  als Blätterdach aufgefächert
eine unmerkliche Verschiebung in Luft
schichten oder sacht bewegte Wasser
 
oberfläche: überleben im Ausharren
bis alle Engramme aufgelöst sind  als käme
gleich Rettung  als könnte wer bleiben
 
veröffentlicht auf signaturen-magazin.de, Zeitzünder, 2018.

anfangs dachte ich das wächst
sich raus  hatte ich noch die Idee
es sei eine Marotte zwischen dir und mir
nicht trennen können was dein oder mein
Ballast ist einen Raum betreten
und alles wahr
                              nehmen  immer auf Empfang
Sekretärin des Miteinanders  eine aus Morse
zeichen sich selbst diktierende Textschleife
im Hirn  wo höre ich auf wo fängst du an
wie weit reichen wir zusammen
in unsere Innereien
                                       als Übersetzerin
erster Atemzüge  letzter Seufzer und des All
einseins dazwischen ohne Punkt und Komma
die einen neben der schweigenden Wahrheit
der anderen Codes aufnehmen  allesamt
mögliche Fremdsprachen
                                                  notiere ich
elektrisches Pulsen bei konstantem Signal
von außen nach innen über Erregungsleitungen
fließend und zurück  aus mir zu dir  osmotisch
ist mein Aggregatzustand  im Zellstoff
der Worte teile ich mich
                                               mit dir zu uns

in: Versnetze_zehn, Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, Hg. Axel Kutsch, Verlag Ralf Liebe 2017.